Der Pflichtteilsergänzungsanspruch: Können Schenkungen des Verstorbenen meinen Pflichtteil beeinträchtigen?

„Reichtum besteht nicht in der Menge der Güter, die man besitzt, sondern in der Art, wie man sie bewahrt.“ – Jean-Jacques Rousseau

  1. Einführung zum Pflichtteilsrecht

Das deutsche Pflichtteilsrecht ist ein fundamentaler Bestandteil des deutschen Erbrechts mit Verfassungsrang und dient dem Schutz naher Angehöriger des Erblassers nach dessen Tod wirtschaftlich „leer auszugehen“.  Es gewährleistet, dass nahe Verwandte wie Kinder, Ehegatten und unter Umständen Eltern des Verstorbenen einen Mindestanteil am Nachlass erhalten. Die allgemeinen Voraussetzungen für einen Pflichtteilsanspruch umfassen die Zugehörigkeit zu einem gesetzlich definierten Kreis pflichtteilsberechtigter Personen, den Ausschluss von der Erbfolge durch Testament oder Erbvertrag und den Tod des Erblassers. Der Pflichtteil entspricht der Hälfte des gesetzlichen Erbteils, berechnet nach dem reinen Wert des Nachlasses zum Todeszeitpunkt. Der Pflichtteilsanspruch ist ein reiner Geldanspruch, der in der Regel gegenüber dem Erben geltend gemacht werden muss. Nur unter engen Voraussetzungen – die in der Praxis selten vorkommen – kann diese Mindestbeteiligung am Nachlass vollständig ausgeschlossen bzw. entzogen werden.

Beispiel:

V, der verwitwet ist, hat zwei Kinder, S und T. Er setzt T testamentarisch zu seiner Alleinerbin ein. Er hinterlässt Vermögenswerte in Höhe von 100.000 Euro.

Hätte V kein Testament verfasst, hätten seine beiden Kinder, S und T, jeweils zur Hälfte geerbt (Erbrecht nach der gesetzlichen Erbfolge). Da V jedoch ein Testament hinterlassen hat, in dem er T zu seiner Alleinerbin eingesetzt hat („meine Alleinerbin soll T sein“), wurde S von der gesetzlichen Erbfolge ausgeschlossen. Folge: Obwohl S, der Sohn des V, nicht bedacht wurde, steht ihm eine wirtschaftliche Mindestbeteiligung am Nachlass des V in Form seines Pflichtteils zu. Er erhält im Ergebnis ein Viertel – die Hälfte seiner gesetzlichen Erbquote – des vorhandenen Nachlasses, demnach 25.000,00 Euro.

  1. Zweck und Hintergrund des Pflichtteilsergänzungsanspruchs

Der Pflichtteilsergänzungsanspruch im deutschen Erbrecht schützt die gesetzlichen Erbansprüche nahestehender Angehöriger gegenüber Schenkungen, die der Erblasser zu Lebzeiten vorgenommen hat. Ziel ist es, die Umgehung des Pflichtteils durch frühzeitige Vermögensübertragungen zu verhindern.

Beispiel:

Angenommen, ein Vater (V) verschenkt kurz vor seinem Tod ein wertvolles Grundstück an einen Freund F. Zudem errichtet er ein Testament, in dem der seinen Freund F zum Alleinerben einsetzt. Seine einzige Tochter wurde nicht bedacht (Enterbung). Seine Tochter, die gesetzlich eine Pflichtteilsberechtigte ist, würde durch diese Schenkung in ihrem Erbanspruch beeinträchtigt. Der Pflichtteilsergänzungsanspruch ermöglicht es der Tochter, eine Ergänzung ihres Pflichtteils zu fordern, als wäre das Grundstück Teil des Nachlasses gewesen. Dadurch wird sichergestellt, dass die Tochter nicht durch die Schenkung benachteiligt wird und ihren gerechten Anteil am Erbe, ihren Pflichtteilsanspruch, erhält. 

  1. Voraussetzungen des Pflichtteilsergänzungsanspruchs

Die Voraussetzungen des Pflichtteilsergänzungsanspruchs im deutschen Erbrecht sind spezifisch und müssen sorgfältig geprüft werden, um einen Anspruch erfolgreich geltend zu machen. Im Einzelnen müssen folgende Voraussetzungen gegeben sein:

  • Derjenige der einen Pflichtteilsergänzungsanspruch geltend machen will, muss zum Kreis der Pflichtteilsberechtigten gehören (allgemeine Voraussetzungen eines Pflichtteilsanspruchs). Nur bestimmte nahe Angehörige des Erblassers, wie Kinder, Ehegatten und unter Umständen Eltern, sind pflichtteilsberechtigt.
  • Der Pflichtteilsergänzungsanspruch setzt voraus, dass der Erblasser zu Lebzeiten Schenkungen an Dritte – z.B. Freunde, Abkömmlinge, wohltätige Organisationen, Ehegatten – vorgenommen hat.
  • Für die Berücksichtigung einer Schenkung gilt grundsätzlich eine Zehnjahresfrist vor dem Tod des Erblassers. Schenkungen, die früher erfolgten, werden in der Regel nicht mehr berücksichtigt. Von diesem Grundsatz gibt es allerdings zahlreiche Ausnahmen. Überträgt der Erblasser beispielsweise zu Lebzeiten sein Wohnhaus an seine Tochter und behält er sich hieran ein umfassendes Wohnrecht vor, fängt die sog. Abschmelzungsfrist nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht an zu laufen.
  • Der Pflichtteilsergänzungsanspruch stellt – wie bereits erwähnt – einen reinen Geldanspruch dar, der bereits mit dem Erbfall entsteht, vererblich und übertragbar ist. Die Berechnung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs erfolgt, indem der Wert der Schenkung dem Nachlass hinzugerechnet wird – dazu sogleich. Ergibt sich selbst nach der Hinzurechnung der Schenkung kein Aktivnachlass, können keine Pflichtteilsergänzungsansprüche bestehen, da der Pflichtteilsberechtigte dann auch ohne die Schenkung nichts erhalten hätte. 
  1. Berechnung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs

Der Berechtigte kann „den Betrag verlangen, um den sich der Pflichtteil erhöht, wenn der verschenkte Gegenstand dem Nachlass hinzurechnet wird“. Eine entsprechende Formel zur Berechnung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs lautet vereinfacht wie folgt:

Ergänzungspflichtteil     =  Summe der Schenkungen
    2 x Nenner des gesetzlichen Erbteils

 

Zusätzlich muss bei der Berechnung noch der Zeitpunkt der Schenkung berücksichtigt werden. Die Schenkung ist, wenn sie länger als ein Jahr vor dem Erbfall erfolgte, nicht mehr in vollem Umfang, sondern für jedes (weitere) Jahr um ein Zehntel weniger zu berücksichtigen. Zehn Jahre nach der Leistung ist der verschenkte Gegenstand in der Regel überhaupt nicht mehr zu berücksichtigen.

  1. Zusammenfassendes Beispiel

Nehmen wir an, ein Erblasser (E) hat 5 Jahre vor seinem Tod ein Haus im Wert von 200.000 Euro an einen Freund verschenkt. Er hat seinen Freund testamentarisch zum Alleinerben eingesetzt. E ist verwitwet und hat einen Sohn hinterlassen (S). S macht seinen Pflichtteil geltend. Der Gesamtwert des Nachlasses beim Tod beträgt 800.000 Euro.

S ist von der gesetzlichen Erbfolge ausgeschlossen. Ihm steht der Pflichtteil zu. Der Pflichtteil beträgt die Hälfte seines gesetzlichen Erbteils. Es ist zu fragen, was S erhalten hätte, wenn E nicht testiert hätte. Nach der gesetzlichen Erbfolge hätte S den vollständigen Nachlass des E erhalten (100 %). Die Pflichtteilsquote des S beträgt daher ½. Konkret heißt das:

Ohne die Schenkung würde der Pflichtteil 400.000 Euro (die Hälfte des Nachlasses) betragen. Durch die Berücksichtigung der Schenkung erhöht sich der Wert des Nachlasses auf den ersten Blick fiktiv auf 1.000.000 Euro. Der Pflichtteil würde somit 500.000 Euro, und das Kind könnte zusätzlich zum regulären Pflichtteil einen Ergänzungsanspruch von 100.000 Euro geltend machen, um die durch die Schenkung verursachte Beeinträchtigung auszugleichen. Allerdings muss noch die Abschmelzung berücksichtigt werden, da die Schenkung bereits fünf Jahre zurückliegt. Die Schenkung in Höhe von 200.000 € ist daher nur noch mit 100.000 Euro anzusetzen (200.000 x 0,5). Der Ergänzungsanspruch beträgt daher nicht 100.000 Euro, sondern (lediglich) 50.000 Euro.

Der fiktive Nachlass erhöht sich somit im Ergebnis auf 900.000 Euro – nicht auf 1.000.000 Euro. Hiervon erhält S die Hälfte, demnach 450.000 Euro (900.000 x ½).